Beobachten
In meinem Gesicht befindet sich, glücklicherweise nach vorn gerichtet, ein noch einigermaßen intaktes Augenpaar. Machen sich mittlerweile einige kleinere körperlichen Gebrechen breit, so kann ich doch mit einer gehörigen Portion Stolz berichten, dass sich meine Augen noch keinerlei dieser Schuld bewusst sein müssen. Während viele Bekannte aus meinem Umfeld und auch der wesentlich grösere Teil meiner Verwandtschaft bereits das Hilfsmittel Brille für diverse Tätigkeiten benutzen müssen, ist mir dieses Accessoire noch nicht unter, oder besser gesagt, vor die Augen gekommen. Ich habe gute Augen.
Und mit diesen gucke ich. Das mag nicht sonderlich überraschend klingen, zumal das Sehen zu den Hauptattraktionen dieses Organs gehört. Doch ich unterscheide deutlich zwischen dem Sehen um der Wahrnehmung Willen und den absichtlichen, studierenden Blicken. Besondere Freude macht mir Zweiteres immer da, wo sich viele, in hektischer Aufruhr befindliche Menschen tummeln. Meine dagegen entspannte, beobachtende Rolle suche ich mir am liebsten am Rande des Chaos aus: in einem Strasencafe der Einkaufspassage, auf einer Bank im Park oder auch etwas abseits einer städtischen Großveranstaltung. Und es gibt eine Menge skurrile, humorvolle aber auch beängstigende Situationen zwischenmenschlichen Daseins zu bestaunen. Zum Beispiel den "was-soll-ich-eigentlich-hier"- Mann. Egal, wo ich ihn sehe schlendert er nur missmutig und mit einem leeren Gesichtsausdruck hinter der Frau oder der Familie her. Wird er von einem Mitglied seiner Crew angesprochen, so huscht ihm ein gequältes Lächeln über sein Gesicht, um den Eindruck zu vermitteln, es sei alles in bester Ordnung. Dabei wünscht er sich nichts sehnlicher, als entweder mit seinem Kumpel am Auto rumzuschrauben oder nicht beim Couchplattsitzen gestört zu werden.
Oder die jungen Frauen, die meinen, dass sie bei einem morgendlichen Besuch im einzigen Kaufhaus der Stadt von einem modeljagenden Laufstegfutzi entdeckt werden könnten. Herausgeputzt und angemalt bis buchstäblich "über beide Ohren" stolzieren sie durch die Fußgängerzone und hoffen darauf, die passenden Blicke auf sich zu ziehen. Gerne auch mit Einkaufstüten behängen, die sie vermutlich schon gefüttert von Zuhause mitgebracht haben, staksen sie mehrfach anscheinend ziellos von A nach B und wieder zurück. Dabei hätte den meisten von ihnen ein kurzer, abschliessender Blick in den heimischen Spiegel verraten müssen, dass ihre Figur der angelegten Kleidung nicht im Geringsten entspricht und sie sich einen Beruf im Modelbuiseness getrost aus ihren runden Köpfen schlagen können.
Und die Kinder. Sie sind in diesem Gewirr aus Beinen und Stimmen oft die Leittragenden. Anstatt sie zu fragen, ob bei ihnen eine unbändige Lust vorherrscht, sich eine langweilige Zeit lang zwischen hektischen Erwachsenen zu bewegen, die selber nicht wissen, was sie wollen, werden sie einfach ins Auto geklemmt und der Unruhe ausgesetzt. (Das die Eltern auf die Idee kommen könnten, sich zu hinterfragen, ob es eine gute Idee ist, die Kinder mitzunehmen, diese Hoffnung habe ich aufgegeben.) Auf wundersame Weise fangen die Kinder nach drei Stunden des Drängelns an, sich Luft zu machen. Und das machen sie, in dem sie nicht nur quengeln oder gar weinen, sondern auch, um die Erwachsenen mit ihrer Unzufriedenheit zur Weißglut zu treiben. Es geschieht ihnen ganz Recht, dass sie zur vorläufigen Beruhigung der Situation dann ihre Geldbörse zücken und den Kindern einen Kompromiss kaufen müssen.
Aber ich beobachte auch vergleichsweise wunderschöne, der Natur geschuldete Momente. Neulich schaute ich von einer Terrasse aus in den sommerlichen Abend Himmel. Die Sonne brach sich durch ein paar verstreute, schneeweiße Wolken ihren Weg. Der Wind war müde und kaum zu spüren. Zwei Flugzeuge hinterließen hoch oben ihre vergänglichen Spuren. Als plötzlich eine Schar Wildgänse meinen Blick kreuzte. Es schien, als flögen sie direkt in das Herz der Sonne, um sich vor der kühlen Nacht noch einmal eine Priese Wärme zu gönnen. Und wie geordnet dies vonstatten ging. Jeder dieser großen Vögel schien zu wissen, was er zu tun hatte, wohin er in jedem kleinen Moment zu steuern hatte. Sie flogen so dicht nebeneinander und doch berührten sich ihre Flügel nicht. Nachdem sie schlie2kehrt machten, drehten sie eine große Schleife und wiederholten das Schauspiel. Mehrmals. Und ich schaute ihnen solange zu, bis sie dann doch hinter meinem Horizont verschwanden. Meine Gedanken flogen noch eine ganze Zeitlang weiter durch den Himmel und zur Sonne